Bibel-Themen

Lorenz Zellner

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Das Doppelgesicht Gottes

 

Aus verschiedenen Berichten ist uns bereits eine Grundstruktur des biblischen Gottesbildes deutlich geworden: die Ambivalenz, die Doppelgesichtigkeit dieses Gottes. Ich verweise besonders auf die Arbeit mit Lukas 15,11-19 und Matthäus 25,1-13.
Die Problematik des zwielichtigen Gottes thematisiere ich mit Hilfe eines Rollenspiels, das ich »3x Vater« überschrieben habe. Ich habe drei kurze Texte vorbereitet und suche für jeden Text jeweils einen Vater und eine Tochter. Ich händige jeder Zweier-Gruppe einen der drei Texte aus und bitte sie, die jeweiligen Rollen in Nebenräumen getrennt zu erarbeiten. Hier sind die Texte:

Text 1:
Die fünfjährige Renate steht am Fenster und drückt die Nase an die Scheibe. Sie hält Ausschau nach irgendjemandem. Dann erzählt sie, als wären Zuhörer da: »Papi ist auf dem Fußballplatz wie fast jeden Samstag. So oft er kann. Wenn er zurückkommt, bekomme ich jedesmal eine Tafel Schokolade, und der Martin, mein Bruder, auch, und die Mutti kriegt ein Bussi  ... Hoffentlich kommt er bald, hoffentlich kommt er bald  ... Mein Papi ist ganz lieb  ... Den heirate ich einmal, wenn ich groß bin.«
Dann sieht Renate den Vater kommen, stürzt ihm zur Türe entgegen, jubelt und schreit, begrüßt den Vater und bekommt ihre Tafel Schokolade. Beide führen dann noch ein herzliches Gespräch.

Text 2:
Die fünfjährige Renate steht unruhig und ängstlich am Fenster und späht hinaus. Ihrem kleinen Bärchen, das sie in den Händen hält, erzählt sie dann, dass der Papi auf dem Fußballplatz ist, praktisch jeden Samstag. Und sie erzählt weiter: »Nachher trinkt er immer so viel; wenn seine Mannschaft gewinnt, trinkt er sich einen an, und wenn sie verliert, sowieso. Und dann gibt es nachher immer Schläge, für mich und Martin, meinen Bruder. Und mit der Mutti ist er dann ganz sauer  ... Hoffentlich bleibt er noch lange aus  ... hoffentlich bleibt er noch lange aus  ... Mein Papi ist immer so bös, wenn er trinkt  ... Ich weiß, wenn ich einmal groß bin, dann laufe ich davon.«
Plötzlich sieht Renate den Vater kommen, sie beginnt zu schreien und zu weinen. Der Vater wackelt herein, er schimpft über das Spiel und den Schiedsrichter, packt ganz unsanft die weinende Kleine und schickt sie ins Bett.

Text 3:
Die fünfjährige Renate steht seit einer Stunde am Fenster. Es sieht so aus, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Sie spricht immer wieder leise vor sich hin: »Hoffentlich haben sie gewonnen, hoffentlich haben sie gewonnen!« Und dann erzählt sie weiter: »Wenn sie gewinnen, dann bin ich Papis Liebling, dann ist er fröhlich, dann gibt es Schokolade; wenn sie verlieren, dann ist er grantig, dann gibt es Geschrei und Schläge und er ist dann so böse zu Mami, zu meinem Bruder und zu mir  ... Heute Morgen habe ich mit Mami und Martin gebetet: „Lieber Gott, lass bitte Papis Mannschaft gewinnen.“
Plötzlich erschrickt Renate. Sie merkt: Heute hat sie umsonst gebetet. Der Vater kommt lärmend und mit rotem Kopf herein und schimpft und schreit herum  ... Renate versteckt sich in ihrem Kinderzimmer und hofft auf ihr Glück am nächsten Samstag.

1. Die Erarbeitung des Faktums Ambivalenz
Die drei Zweiergruppen haben ihre Rollen erarbeitet und spielen die jeweiligen Szenen mit Ernst und Einsatz. Die Betroffenheit der Zuschauer und Zuhörer ist spürbar.

2. Der Dialog mit den Texten
Die drei Töchter schildern noch einmal ihre Gefühle und ihre Zukunftsvisionen. Was ihre Zukunft betrifft, weiß die Tochter der dritten Szene als einzige keinen Ausweg.

3. Die Beurteilung der jeweiligen Lage
Am schrecklichsten erscheint die Lage der Tochter der dritten Szene. Sie erscheint ausweglos. Wenn sie sich später von ihrem Vater abgrenzen und davonlaufen will, sagt immer eine innere Stimme: »Aber gut ist er auch!« Und wenn sie von ihm gut behandelt und beschenkt wird, kann sie sich nicht richtig freuen, weil das Schlimme, das er ihr zugefügt hat, wie eine dunkle Macht im Hintergrund ihrer Beziehung zum Vater steht.

4. Die Weiterarbeit nach dem Rollenspiel
Die neue Sensibilität für ambivalentes Verhalten und dessen Folgen wird auch vor Gottesbildern und -geschichten nicht mehr haltmachen. Allerdings spüren viele Kursteilnehmer immer wieder, wie sehr ihnen ein Gott, der mit Peitsche und Zuckerbrot arbeitet, in Fleisch und Blut übergegangen ist.

 

***

 

In der Bibel sind sinnvolle und unsinnige, stimmige und sich widersprechende Gottesgeschichten enthalten, Geschichten, die mehr über die menschlichen Schreiber als über Gott aussagen. Ich halte die Zeit für überreif, diese Geschichten zu hinterfragen, sie miteinander zu vergleichen, an Logik, Ethik, Wirkungsgeschichte und am Geist Jesu zu messen und dann zu entscheiden: Haben sie in einer Verkündigung, die sich auf Jesus beruft, Platz, müssen sie verabschiedet oder müssen sie neu geschrieben werden?
Viele unserer Gottesgeschichten haben das Urvertrauen zu Gott zerstört und stören auch jeden Neuaufbau. Denn in ihrer metaphorischen Bildersprache sind sie in die Tiefenschichten des Menschen eingedrungen und lassen sich durch keine noch so sachliche Logik korrigieren. Nur im harten Spiel lassen sie sich gelegentlich erschüttern.
Ich meine: Auch Gott gegenüber brauchen wir eine neue »Kultur der Liebe«. Gott muss aufhören, eine abstrakte Hohlform zu sein, in die man alles Mögliche willkürlich hineinstopfen kann.

 

Aus: Lorenz Zellner: „Gottestherapie“

 

 

 

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